Fast 100 Jahre alter Grotrian-Flügel spielt wie von "Geisterhand"

Seltener Selbstspieler: Grotrian-Steinweg-Flügel mit historischer Ampico-Automatik

Auf den ersten Blick sieht er fast aus wie ein ganz normaler Flügel. Nur der ungewöhnlich hohe Korpus und die Tatsache, dass dieser von fünf statt wie üblich von drei Beinen gestützt wird, deuten darauf hin, dass dieser 1927 gebaute Grotrian-Steinweg-Flügel, den Daniel kürzlich begutachten durfte, eine Besonderheit in sich birgt. 

Besitzer Michael Ashton zieht eine Art Schublade unter der Tastatur hervor, spannt eine Papierrolle mit Lochstreifen ein und setzt den Mechanismus in Gang: Die Tasten beginnen sich wie von Geisterhand zu bewegen und bringen den Flügel zum Klingen, ohne dass jemand auch nur einen Finger krümmen muss. Denn:  Dieser 185 cm lange Flügel ist einer von weltweit nur zehn Grotrian-Steinweg-Flügeln mit Ampico-Selbstspieler-Automatik.




 Ampico steht für die "American Piano Company", die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Selbstspieler-Automatiken vor allem in amerikanische Klaviere und Flügel einbaute. Der Clou: Man kann auf den Instrumenten trotzdem ganz normal spielen, sogar während die Automatik gerade die Tasten steuert.

 

In Europa waren die Selbstspieler längst nicht so weit verbreitet wie in den USA. Daher sind hierzulande Ampico-Einbauten etwa in Bösendorfer oder eben Grotrian-Flügeln  eine Rarität. Von den zehn Ampico-Grotrian-Flügeln sind nach Michaels Schätzung wahrscheinlich nur noch etwa die Hälfte erhalten. Michael, der aus Kalifornien stammt, suchte lange nach einem solchen Ampico-Flügel, wie er sie aus seiner Heimat USA kannte. Fündig wurde er schließlich bei einem Händler in Süddeutschland.

 

Seit Mai 2020 steht der Grotrian-Flügel nun bei Michael und seinem Mann William Saetre in Hamburg-Harvestehude. Beide sind Profi-Musiker, Michael arbeitete u.a. fast 30 Jahre lang für die Hamburger Stage School als Korrepetitor, William ist ausgebildeter Opernsänger und Gesangslehrer. Michael schwärmt nicht nur für alte Selbstspieler-Klaviere; er besitzt auch eine umfangreiche Schellack-Plattensammlung und hat ein Faible für alte Musikgeräte wie Phonographen und Grammophone, wie schon ein Blick ins  Wohnzimmer der Beiden verrät.

Ein Selbstspieler-Flügel ist schön - selbst spielen noch schöner!
Ein Selbstspieler-Flügel ist schön - selbst spielen noch schöner!


Geordnetes Chaos: Motor und Pneumatik-Schläuche sind an der Unterseite des  Flügels angebracht.
Geordnetes Chaos: Motor und Pneumatik-Schläuche sind an der Unterseite des Flügels angebracht.
Daniel hat die Flügelmechanik herausgezogen und prüft ihren Zustand.
Daniel hat die Flügelmechanik herausgezogen und prüft ihren Zustand.

 

 

Nur ein kleiner Teil von Michaels Musikrollen-Sammlung.
Nur ein kleiner Teil von Michaels Musikrollen-Sammlung.

Während heutige Selbstspieler-Klaviere digital und mit Laser-Sensoren arbeiten, funktionierten die alten Systeme - neben Ampico gibt es noch einige andere Fabrikate - pneumatisch, also mit Luftdruck. Daher findet man unterhalb des Resonanzbodens ein Gewirr von dünnen Luftschläuchen und einen kleinen Motor. Die Steuerung basiert auf in Papierrollen gestanzten Löchern, ähnlich den in frühen Computern benutzten Lochstreifen. Die Übertragung der "Daten" von der gelochten Papierrolle auf die Flügelmechanik ist dabei so fein, dass Lautstärke, Dynamik und Pedaleffekte eines Klavierstücks so nuancenreich wiedergegeben werden wie die zu Grunde liegende Einspielung des "echten" Pianisten.

 

Bis in die 30er Jahre nahmen zahlreiche Komponisten und Pianisten Werke für Ampico auf, die aus diesen Aufnahmen anschließend Lochstreifen-Rollen herstellte. In Michaels rund 250 Rollen umfasssender Sammlung finden sich unter anderem Werke von Sergej Rachmaninoff (1873-1943) , die dieser höchstpersönlich eingespielt hat. Legt Michael eine seiner Rollen ein, ist es fast so, als spiele Rachmaninoff live am Flügel.

 

  

 Auch für Daniel ist ein solches Instrument nicht alltäglich. "Die meisten Klavierbauer begegnen einem solchen Instrument in ihrer gesamten Laufbahn nicht", meinte er. Michaels fast 100 Jahre altem, vor rund zehn Jahren restaurierten Ampico-Exemplar bescheinigte er einen insgesamt sehr guten Zustand. Allerdings war die Mechanik nicht mehr perfekt eingestellt, und die kürzlich erneuerten Filze waren für diesen Grotrian noch nicht optimal intoniert. Hier werden Daniel und Kollege Hans-Ulrich Tetsch demnächst noch den nötigen Feinschliff - Regulieren und Intonieren - vornehmen. Damit  dieser schöne alte Flügel auch klanglich bald wieder prachtvoll strahlt und sich gleichmäßig spielen lässt - ob nun vom Automaten oder Michael selbst.

 

Alt und empfindlich: Lochstreifen-Rollen wie diese lassen aus Papier Töne werden.
Alt und empfindlich: Lochstreifen-Rollen wie diese lassen aus Papier Töne werden.